Short Story
Alleinsein auf Reisen Clara erkundet die Umgebung ihres Hotelappartements. Ein Pavillon in der Mitte der Fußgängerzone als Biomarkt, rundherum wie auf einem alten Dorfplatz Geschäfte: Fleischer, Bäcker, Optiker, Tabakladen, Penny, Schlecker, Pizzahaus und der unvermeidliche Chinese. Der Lärm der Hauptstrasse wird von den Häusern die den Platz umrunden an seinen Ausgangsort zurückgeworfen. Clara setzt sich auf einen der etwa 6o cm hohen Betonringe, die die Baumringe bilden. Eine mollige warme fast hochsommerliche Sonne trotz November. .Von den Ästen der Bäume lösen sich goldgelbe Blätter „ als welkten in den Himmeln ferne Gärten…“.Wie von Rilke denkt Clara oder nein wie im Märchen, wenn es Dukaten regnet. Aus meiner Sicht ein poetisches Schauspiel, für die Blätter ein Sterben. Ob dieser warme sonnige Nachmittag dieses zärtliche Gehaltenwerden von der Luft das Sterben schöner macht als wenn vor einem nebeligen Hintergrund ein nass kalter Novemberwind die Blätter von den Ästen reisst , sie in die Höhe wirft, durcheinander wirbelt, aufeinander zutreibt und sie dann wie alte braungraue Fetzenstückchen in den Regenlacken liegen? Obwohl in den Supermärkten der übliche Geräuschpegel von Musik, quengelnden fordernden Kindern und miteinander die Einkäufe diskutierenden Paare zu finden sind, so ist der Platz selbst voller anmutiger Ruhe. Ist die Supermarkttür erst einmal hinter den Einkaufenden zugefallen, haben sie wieder den Platz betreten, hören selbst die Hunde zu winseln auf, werden die Stimmen unwillkürlich leiser. Welch eine Süße . Clara zittert vor Vergnügen als die Nougatcreme des Nusskrapfens sich über ihre Zunge legt und den Gaumen erreicht. Sie macht ihren Mund so groß wie nur möglich und stopft sich den gefüllten Hefeteig als Ganzes in den Mund. Ein kurzer Rundumblick stellt fest, es gibt keine Zuseher dafür, dass die Nougatcreme bereits an den Wangen und der Nasenspitze klebt und Clara die Finger abzulecken beginnt. Nur eine Frau im Rollstuhl wird links vom Penny Markt vorbei geschoben. Zunächst nur ein Bild, das Clara mit ihrer Kamera als ein mögliches Motiv registriert. Aber deswegen war sie nicht hierher gekommen in diese Stadt. Der Fotoapparat sollte die alten Häuser, die Museen, die Lokale, Parkanlagen kurz die Sehenswürdigkeiten aufnehmen nicht aber alte Frauen im Rollstuhl. Trotzdem konnte sich Clara diesem Bild nicht entziehen. Die anthrazitfarbene Karojacke bedeckt einen mageren Oberkörper über den ein schmaler eiförmiger Kopf wie eine im Wasser liegende Boje leicht hin und her schwankt. Vereinzelte weiße Haarbüscheln geben Raum für die durchscheinende rosafarbene Hinterkopfhaut. Hinter dem Rollstuhl die Betreuerin in einer offenen schwarzen Lederjacke darunter ein papageipinkfarbenes T-Shirt, tief ausgeschnitten, praller Brustansatz. Die packpapierbraunen leicht fettigen Haare sind mit einer giftgrünen Schnalle zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Der alleinsein auf reisen 2 Unterkörper, eingepackt in eine moosgrüne Lederhose, lässt erahnen, dass Essen eine nicht unwichtige Komponente des Alltags sein könnte. Plötzlicher Szenenwechsel in Claras Kopf. Als würde jemand das Bühnenbild mit den goldfarbenen Blättern die im November Sonnenlicht zu Boden tänzeln mit einer Machete zerreißen, um zu zeigen was back stage vor sich geht, in jenem Bereich, wo Fremden der Zutritt verboten ist, dem Universum von Claras Ängsten: oder: Und wie immer plötzlich der Riss als würde jemand den Vorhang wegziehen und das was hinter der Bühne vor sich geht sichtbar machen. Wie immer schleuderte das Bild Clara in ein anderes Universum, das Universum ihrer eigenen Ängste. . „so könnte auch ich einmal enden, im rollstuhl, alleine, auf einen hilfsdienst angewiesen, denn ich bin zu gebrechlich und schwach, um schwimmen, tanzen, spazieren zu gehen, vom radfahren und nordic walking ganz abgesehen, vielleicht gibt es bis dahin schon rollstuhl tai chi oder ich meditiere den ganzen tag, um den pflegerinnen nicht die ewig gleichen frühstücksbuttersemmeln nachzuwerfen, mein häuschen mit garten musste ich verkaufen, um das heim bezahlen zu können,einzimmerappartement wenn ich glück habe und nicht inkontinent werde, oder an alzheimer erkranke, inkontinent würde mich mehr stören, das merke ich, alzheimer das merken nur die anderen,alzheimer und inkontinent wäre am besten, dann vergesse ich gleich wieder was ich mich gerade gestört hat, dieser dezent vorwurfsvolle blick des pflegepersonals, die geblähten nasenflügeln, dann dieser erwachsenen- kindchenton , so frau clara was haben wir denn da , seufzen, na dann wechseln wir wieder einmal die windeln , irgendwann wird es ihnen zu viel, den tepppich in meinem einzimmerappartment vom urin zu reinigen und „wir“ übersiedeln in die ans heim angeschlossene pflegestation, kann sein, dass es dann keine pensionen mehr gibt, dann nützt mir das ganze ansparen auch nichts und ich liege so wie die alten früher in sechs oder gar dreizehnbettzimmern, ich die immer alleine gelebt hat ,immer gab es fluchtpunkte, ausweichmöglichkeiten, bei georg die zweite wohnung, bei max das zweite schlafzimmer, jetzt mit rudi da haben wir uns angewöhnt, den raum des anderen zu respektieren,im heim wird keinen raum mehr geben, alles was mir gehört, befindet sich in einem spitalsnachtkästchen und- schränkchen verwahrt, wo bringe ich dann meine tausend bücher und siebenhundert cds unter, wo die masken aus dem senegal, den wandteppich aus indien, die bilder aus brasilien, die teller aus portugal, das tajine ,die japanische messer kollektion, keine rede von einem weinlager, ich werde täglich dieses warme, ausgedünnte hagebutten- und malvenwasser trinken müssen, kann mir nicht einmal ein bier kaufen, denn wie sollte ich allein zum getränkeautomaten kommen, keine kerzen und aromalämpchen, denn wir alten sind unberechenbar ,vergesslich und unzurechnungsfähig, also wird der ganze raum erbarmungslos nach unseren ausdünstungen riechen, ja sie waschen uns täglich ,da lässt sich nichts sagen aber womit, sicher nicht mit meinen honig-mandel seifen und vermutlich wird meinen alleinsein auf reisen 3 körper niemand mit sheabutter oder wildrosenlotion eincremen, wenn ich in einem fortschrittlichen heim bin werden sie tiere im umfeld gestatten, zumindest zeitweise,ich werde dann erdulden müssen, dass eine katze die krallen an meinem schlafrock schärft und dass hundeschnautzen an meinem knie herumlecken,ich die ich hunde seit meiner kindheit verabscheue, bis heute ist mir am linken oberarm die narbe von dem biß geblieben, es könnte einen garten geben mit gemüse und blumen aber wie soll ich vom rollstuhl aus unkraut zupfen oder salat pflücken, wofür werde ich mich also interessieren, meine augen sind zu schlecht, um etwas zu lesen, außerdem kenne ich bis dahin schon zigtausende bücher, handarbeiten hasse ich sowieso, stricken geht auch nicht wegen der- in diesem fall gott sei dank- zittrigen hände, kartenspielen ist mir schon seit meiner kindheit unerträglich, schreiben? was und worüber soll ich schreiben und vor allem für wen, was erlebe ich schon in dem heim: frühstück, mittagessen, schläfchen, abendessen, fernsehen, bei schönem wetter eine ausfahrt, wenn die betreuerin lust darauf hat, im zentrum meines lebens werden die schmerzen stehen, der tag wird eingeteilt sein in schmerzfreie und schmerzintensive zonen, alles konzentriert sich auf die medikamenteneinnahme, vier halbe und fünf ganze pillen und das zu fixen stunden nach denen sich mein körper so sehr sehnt wie früher nach wandern und tanzen,wieso hängen diese alten leutchen noch an so einem leben, furchten sie sich so sehr vor dem tod, dass sie eine derartige nicht-existenz in kauf nehmen,keine verwandte, keine freunde, die freunde werden entweder bereits tot oder in anderen heimen untergebracht sein, keine kinder, die mich zumindest gelegentlich besuchen kommen müssen, aber auch wenn ich kinder hätte, sie könnten in den usa oder in argentinien leben, bei einem unfall gestorben sein, oder mich vielleicht gar nicht mögen, rudi muss und wird ebenfalls nicht immer bei mir sein, er kann eine andere frau kennen lernen ,er kann vor mir sterben, ich kann ihn verlassen, hier ist es wieder dieses herzzerreißende gefühl der absoluten einsamkeit, der sturz ins schwarze loch, dort wo sich all jene materie befindet, die wir bis heute nicht kennen, allein im universum ohne stadtplan, wanderkarten und kompass für die tausenden von milchstrassen, millionen galaxien, aufgesaugt von den plejaden, zentrifugiert in den spiralnebeln, ausgespuckt und hinter den mond geworfen,ah eine kleine atempause, um danach von der sonne gedörrt zu werden, warum auch nicht, wir machen es ja mit den früchten auch so und danach wieder diese einsamkeit als stünde man nackt auf der abwechselnd kelvinkalten und lavaheissenen klinge eines großen japanischen Fleischmessers ohne darunter liegendes hackbrett ,wer weiß vielleicht jagen dann rasende quarks durch die adern , begraben mich trippslawinen unter sich, trennen mir neutrinos die haut von den knochen, da kann chagall noch so heimelig kuschelnde päarchen am mitternachtsblauen himmel darstellen, nichts aber auch gar nichts wird diese einsamkeit übermalen können.“ Knurren und Kläffen. Knapp einen Meter von Clara entfernt verbeissen sich ein weisser und ein braunschwarzer Schäferhund ineinander. Die jeweiligen Besitzer zerren an den Leinen, was die Tiere nicht weiter beeindruckt. Der Rollstuhl steht. Das Gesicht der alten Frau in der anthrazitfarbenen Karo Jacke ist hingebungsvoll nach oben gewandt – zur Sonne, zum wolkenlosen blauen Himmel, zu einem imaginären zärtlichen Liebhaber?. Es zeigt Vertrauen, Erwartung, Lust und Genuss während die Betreuerin mit gebeugtem Rücken missmutig auf der grünen Bank daneben sitzt, ins Leere glotzt und widerwillig eine Leberkäsesemmel zerkaut.