Guatemala. „Harte Jahre“

heißt das Buch von Mario Vargas Llosa, in dem der Literatur Nobelpreisträger die Zeit um 1954 beschreibt, in der die United Fruit Company und der CIA die Freiheitsbestrebungen Guatemalas zugrunde richten.( erschienen 2020 im suhrkamp Verlag, übersetzt von Thomas Brovot)

Guatemala. 1979. Es sollte eine Reportage über jene Kaffeebauern werden, die mit Hilfe von EZA einen fairen Preis für ihr Produkt bekommen. Hätte ich damals beim Außenamt nachgefragt, ich bin sicher, man hätte mir von der Reise abgeraten.
Zu dieser Zeit gab es seit knapp 20 Jahren Bürgerkrieg in dem mittelamerikanischen Land, der erst 1996 durch die Unterzeichnung eines Friedensvertrages formell für beendet erklärt wurde. Während der Diktatur von General Efrain Ríos Montt kam es zum Genozid der indigenen Bevölkerung. Unter den Gefolterten und Ermordeten befand sich auch die Familie der späteren Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menschú.

Rigoberta Menchú s Familie steht als Symbol für den Genozid, den Regierung und Armee während des Bürgerkrieges an der indigenen Bevölkerung Guatemalas begangen haben. Ihr Vater, ihre Brüder wurden ins Gefängnis gesteckt, gefoltert, umgebracht, die Mutter mehrmals von Soldaten vergewaltigt.Tausende Menschen der indigenen Bevölkerung kamen bei dem Genozid ums Leben, der während der Bürgerkriegs 1960 bis 1996 in Guatemala stattfand. Insgesamt gab es 200.000 Tote und über 45.000 Verschwundene. Es war die Zeit des Kalten Krieges. Die rechten Regierungen hielten die Bauern für Guerilleros und sahen in den abgelegenen Dörfern Hochburgen der marxistischen Guerilla, die sie mit Hilfe der CIA und eigener Todesschwadronen bekämpften.

Einem verantwortlichen Politiker wurde 30 Jahre später der Prozess im eigenen Land gemacht: José, Efraím, Ríos Montt, Diktator von März 1982 bis August 1983, angeklagt wegen Völkermordes an 1.771 Angehörigen des Maya Volkes der Ixil. 80 Jahre Haft lautete das Urteil, das allerdings später vom Verfassungsgericht wegen Verfahrensfehler aufgehoben wurde. Der Multimillionär, der gerne Bibelzitate in den Mund nahm, starb mit 91 Jahren unter Hausarrest.

Bis heute ist die Zeit des Bürgerkrieges in Guatemala nicht wirklich aufgearbeitet worden. Unangetastet blieb ebenso die Macht der korrupten Elite. An der ungerechten Konzentration des Landbesitzes in den Händen einer Minderheit hat sich ebenfalls nichts Wesentliches geändert. In Guatemala sind laut UN- Angaben 59 Prozent der Menschen arm, ein Teil der Landbevölkerung lebt sogar in absoluter Armut, darunter vor allem die Indigenen. Der Anteil der Steuereinnahmen am Bruttoinlandsprodukt liegt bei knapp über 10 Prozent. Damit hat das Land weltweit eine der niedrigsten Steuerquoten. Gut für die Reichen des Landes, schlecht für die über hunderttausend Armen, die keine andere Überlebensmöglichkeit sehen, als das Land über Mexiko in Richtung USA zu verlassen.

Ich verbrachte mehrere Tage in Guatemala City, Antiqua, Chichicastenango, am Atitlán See. Zum ersten Mal sah, roch, spürte ich nackte, brutale Armut. Daran sollte erst wieder mein Aufenthalt in Haiti anknüpfen. Und überall waren Polizisten mit Gewehren präsent, in der Ankunftshalle am Flughafen, im Dutyfree Shop, vor Kirchen, Hotels, Geschäften.
Ich erinnere mich an ein Bild, virtuell gespeichert, denn ein Foto zu machen, wäre zu gefährlich gewesen: ein Kiosk  in unmittelbarer Nähe des Regierungsgebäudes.  Davor ein Polizist, die Hände am Gewehr. Einer seiner Füße steht auf einer rechteckigen, mit Schlamm überzogenen Platte auf dem Gehsteig. Später als der Polizist verschwunden war, las ich auf der Platte den Name eines Studentenführers, der 1978 hier an dieser Stelle bei einer Demonstration ermordet wurde.
Zwei Wochen lebte ich bei einer Kaffeebauernfamilie im Hochland, in Jacaltenango. Es war Regenzeit. Das Wasser stand tagelang knöcheltief in den kleinen Hütten. Das Funzellicht der Kerze ließ einen Herd erkennen, einen Sessel, Tisch und Bett. Acht Menschen lebten in diesem Raum.
Ich sah knochendürre Männer, die barfuss, mit gekrümmten Rücken, Lasten den Berg hinauf- und hinunterschleppten. Alle hatten wenig, tagelang auch gar nichts zum essen. Dann war ich beim Priester eingeladen, der im Ort lebte. Ich erinnere mich nicht mehr, welcher Religionsgemeinschaft er angehörte, weiß aber, dass er aus den USA stammte. Er wohnte in einem gemauerten, trockenen, warmen Haus mit Teppichen, Decken und Lampen. Ich fragte ihn ob er sich in seinem Überfluss  wohl fühlen könne inmitten dieser ihn umgebenden Armut. Die Frage gefiel ihm nicht. Vielleicht verständlich, denn zehn Prozent der Bevölkerung Guatemalas führten damals ein hundert- bis tausendfach luxuriöseres Dasein als dieser Priester. Ihnen, den Reichen, gehörte das ganze Land. Armut war kein Thema, auch nicht in den Tageszeitungen.
Ich sah, welche Hoffnungen die Kaffeebauern in die Genossenschaft setzten. Zum ersten Mal verfügten sie über eine Art garantiertes Einkommen, unabhängig davon, ob der Kaffeepreis stieg oder fiel. Sie konnten dadurch die Kinder in die Schule schicken, Mais, Zucker und Medikamente kaufen. Als die Genossenschaft eine Versammlung einberief, war der Saal voll, viele kamen trotz eines zwei, dreistündigen Fußmarsches und unterzeichneten die Verträge mit Fingerabdruck.
Immaterielles Reisesouvenir: Auf der Fahrt ins Hochland halten wir bei einem kleinen Lokal. Ich lade meinen Gastgeber, Senor Lopez, zum Essen ein. Die Tortillas werden auf den Tisch gestellt. Draußen vor dem Fenster versammeln sich ein paar Kinder und schauen uns zu. Senor Lopez  steht auf, kramt ein paar Münzen aus seinem Hosensack, kauft Bonbons und verteilt diese an die Kinder. Er kommt zurück, setzt sich und sagt mit leiser Stimme: “Ich kann nicht essen, wenn ich sehe, dass die anderen nichts haben.“