Short Story
Lebenserfahrung, Short Story Alle erwarten Antworten von mir. Meine fünfzehnjährige Nichte, Lisas älterer Bruder, unsere Nordic Walking Gruppe, die unter mir wohnende Nachbarin, mein Noch-nicht Lebenspartner, die Dame vom Call Center für Meinungsumfragen, die Politcoaches für Volksabstimmungen, die untersuchenden Ärzte. Kurz, die ganze Welt wendet sich Hilfe suchend an mich. Einzige Ausnahme, Onkel Theo, neunzig und Alzheimer Patient. Er ist mit sich und seinem Universum ausgelastet, stellt weder Fragen noch gibt er Antworten. Er existiert einfach ohne wenn und aber. Ich besuche ihn nicht ungern, weil er nie diese anmaßenden Gesprächspartikel auf mich los lässt wie: „ Du weißt doch wovon ich rede, also.…“ „ Hast du das nicht auch erlebt und ….“ „Kannst du dich erinnern als du damals….“ „Sollten wir nicht überlegen…..“ Und der verbale Super Gau: „ Du in deinem Alter und mit Deiner Lebenserfahrung könntest, solltest, würdest, müsstest, hättest…“ Ich bin neunundfünfzig Jahre, dreieinhalb Monate und vier Tage. Ich habe selbst ebenso viele Fragen wie Schuhe, ohne dazu passende Schuhcremen und Antworten. Wenn draußen Novembernebel und Nieselregen eine amouröse Affäre eingegangen sind, stehe ich in meiner eingebauten Garderobe vor einem ungelösten nachhaltigen Problem: empfiehlt es sich, die Leder Schnürschuhe anzulegen oder besser die Lack Stiefeletten überzuziehen? Mit oder ohne Alu-Thermo-Isoliersohle? Dicke gestreifte oder dünne einfärbige Socken? Könnte es mir nicht zu warm werden, wenn ich zwei Stunden im geheizten Raum sitze? Andererseits bin ich eine Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, wären da nicht die Lammfellsohlen ohne Socken…..? Ich wurde einer fundierten römisch-katholischen Erziehung ausgesetzt, verfolge freiwillig die Predigten protestantischer SuperintendentInnen an, feiere mit Freunden Rosh Ha Shana, darf eine innige Beziehung zu buddhistischer Meditation eingestehen und verweise, neben der Arbeit, auf mein dreisemestrige Studium von vergleichenden Religionswissenschaften. Was soll ich sagen. Bis heute ist das novemberliche Schuh Problem nicht gerade ungelöst aber weiterhin offen. Vielleicht sollte ich nachforschen was die Zoroaster oder Janaiten meinen, mit welchen Schuhen Shiva und Kali tanzten und welche Empfehlungen der Maya Kalender gibNehmen wir ein weiteres tief in mir verankertes November Beispiel: es geht um den alchemistische Prozess, bei dem Hagebutten zu Marmelade verarbeitet werden. Wie bei allen Transformationen beginnt der Weg mit dem ersten Schritt, der Vorbereitung. Ich stelle also die mit heißem Wasser ausgeschwemmten Gläser auf den Kopf und schwenke auf der Innenseite der Deckel etwas Rum hin und her, um auch die kleinsten Ecken zu desinfizieren obwohl es eigentlich bei einem Kreis, einem Oval keine Ecken gibt. Wie nennt sich das denn? Ist schon wieder eine Frage ohne Antwort. Könnte sogar ein Koan sein. „ Wie benetze ich die Ecken eines Kreises mit Flüssigkeit“ Endlich einmal ein neues Koan anstelle des Klassikers: „Wie klatsche ich mit einer Hand“. Zweiter Schritt, die Umsetzung. Ich lege die Verschlusskörper auf das bereits vorbereitete sterile Geschirrtuch. Mit Hilfe eines Schöpfers fülle ich die passierte Hagebuttenmasse in die Gläser. Nun beginnt das Ratespiel: welcher Deckel kommt als Partner für welches Glas in Frage. Mein Auge krallt sich an einem schmalen goldfarbenen Twist-off Deckel fest, eine kongeniale Kappe für das Gurkenglas. Er dreht sich durch. Ich probiere es mit einem Ersatz Twist-off. Der Rotkarierte passt. Möglicherweise hätte er sich genauso gut auf das Weck-Rundrand- Glas schrauben lassen oder gar auf eines der Konfitürengläser, die zwar kleiner und bauchiger sind als das Gurkenglas aber mit einer für ihre Form ziemlich weiträumigen Öffnung. Zu spät, der Deckel ist bereits vergeben. Also ein ähnliches Format suchen. Ist aber keines auf dem Geschirrtuch ausgelegt. Ich schnappe etwas mir passend Erscheinendes für das Sturzglas. Fehlanzeige, dafür ist dieser Deckel nun mit Hagebuttenmarmelade bekleckert und müsste nochmals eine Rumdusche durchmachen. Der weiße kann es nicht sein, dessen Zugehörigkeit zum Pesto Behälter ist eindeutig, der zweite rote ist rund aber wie geht das zusammen mit dem Sechseckglas. Vielleicht sollte ich einheitliche Drahtbügelgläser kaufen mit ihren an das Hauptglas angeketteten deckeligen Beiwagen. Vielleicht müsste ich zuerst jene Gläser füllen, die eindeutig zuordbare Deckeln haben, aber welche sind das, wenn es unterschiedlich große Gläsermäuler aber einige gleichgroße Deckeln gibt? In meinem nur mehr kurzfristig anhaltenden Arbeitsleben habe ich in Managementkursen gelernt, dass Aufgaben delegieren, vor allem unangenehme, bestechendes Kennzeichen einer effizienten Führungskraft ist. Aber an wen soll ich delegieren, ich bin allein im Küchenoffice, selbst wenn ich es wollte, könnte ich hier kein Team mit Herz und Verstand führen. Ostsprachen gehören nicht zu meinem Kommunikationstool, für ein Traineeprogramm und eine Potentialdiagnostik bin ich zu alt ebenso für eine Karriere-Lounge. Als Mentorin wäre nur meine Mutter in Frage gekommen, aber die fokussierte ihre Handlungsagenda ständig auf die Rumdesinfektion. Andererseits kann ich auf Pluspunkte verweisen: ich übernehme Eigenverantwortung und verwirkliche mich als starkes Individuum selbst. Selbstständige sind ja im Vormarsch und ein weiteres Plus, ich schöpfe das weibliche Potential aus, feminisiere meinen Betrieb. Davon können andere Unternehmen nur träumen. Aber schon wieder drängelt sich da eine ekelige halbierte acht mit Punkt dazwischen: Will ich das eigentlich? Ist das der Sinn meines Lebens? Zertifiziert mein höheres Selbst Hagebuttenmarmeladeeinkochen? Natürlich werde ich von niemandem zur Konfitürenproduktion gezwungen. Ich bin frei. Ich könnte also jene Zeit die ich damit verbringe, die roten Früchte der Heckenrose von den Ästen zu zerren, auszuquetschen, zu kochen, zu passieren, mit Gelierzucker zu versehen und einzufüllen ebenso gut darauf verwenden Pilates zu üben, den neuen Meryl Streep Film zu sehen, estnisch zu lernen oder Mandarin, wozu eigentlich Mandarin? wieder so eine Frage ohne Antwort und wozu estnisch? Jedenfalls könnte ich im Zug nach Warschau oder im Flugzeug nach Samoa sitzen, in Ligurien Rosmarin pflücken, in der Provence eine Allee entlanggehen, in Berlin Elefanten im Zoo betrachten, würde ich nie machen, aber nehmen wir es einfach als Option.Ich könnte einen Manga Kurs absolvieren, eine kleine Aktienspekulation durchführen, einem Kind mit Migrationshintergrund Nachhilfe erteilen, alte Menschen besuchen, mach ich ja sowieso, ein Triathlon Training absolvieren, Rebhühner jagen, also das natürlich nicht aber zumindest Tontaubenschießen, die drei Bilder aufhängen, die schon seit Wochen unter dem Schlafzimmerbett liegen, Leuchtgirlanden zusammenstellen, Suppen an Obdachlose verteilen, im einem Cafe Campari Orange trinken, endlich den Segelschein machen, jetzt im November? ist ja im übertragenen Sinn gemeint, ich könnte……… Lassen wir es. Die wahre Aufgabe im Leben besteht darin, im Augenblick präsent zu sein, voll und ganz präsent zu sein, sich dem eigenen Tun hinzugeben. Frage? Keine. Na also. Doch, eine Frage: wie vergrößere ich die Seele meiner Wohnung, die Küche? Ich bin zwar frei, aber die Küche ist zu klein selbst für die Minimalvariante Hagebuttenmarmelade. Natürlich wäre es am effizientesten neben jedes Einkochglas den dazu gehörigen Verschlusskörper zu placieren, aber soviel Platz habe ich nicht. Neben dem Herd steht mir eine Fläche in der Größe von 30 mal 40 cm zur Verfügung. Der Tisch daneben ist mit 80 mal 80 cm zwar etwas größer aber weiter vom Herd entfernt. Das bedeutet, den mit heissergelatinierterhagebuttenmasse gefüllten Schöpfer über nahezu einen Meter Luftweg so zu transportieren, dass weder Vitamin C, B1, B2, E, K, P, H noch Eisen, Magnesium, Natrium, Phosphor, Schwefel, Fruchtzucker, Pektin und ätherische Öle auf den Boden klatschen. Würde der Tisch neben dem Herd stehen, könnte ich effizienter arbeiten und gemütlicher frühstücken. Die Konsequenzen daraus zeigen sich kristallklar: Abbau der Regale, Vergrößerung der Fenster, Durchbrechen der Zwischenmauer, Umwidmung des bisherigen Schlafraumes zu einer Wohnküche. Die Gäste könnten mich dann beim Kochen beobachten. Welche Gäste eigentlich? Wie auch immer, der Kühlschrank müsste dann anstelle der Sitzbank eingebaut werden, die sowieso ein Fehlkauf war. Besteht mein Leben nicht durchgängig aus Fehlkäufen? Damals als ich die Sitzbank Magda kaufte, glaubte ich, dieses Granatapfelrot würde mit allen Farben harmonieren auch mit den vorhandenen azurblauen Vorhängen, die, zugegebenermaßen, einen farblichen Affront zum moosgrün gesprenkelten Bodenbelag darstellen. Sollten also Gerb- und Schleimstoffe des roten Vitaminspenders auf diesen Belag hinunterträufeln und unabsichtlich von meinen Crocs zerquetscht und damit in den Boden eingerieben werden, wären diese Flecken keine wirkliche Katastrophe. Allerdings schade um jeden Milliliter Hagebuttensubstanz, denn das Ausquetschen der haarigen Früchte ist nur Phlegmatikern zumutbar. Ich bin aber keine Kapha Existenz sondern ein ayurvedageprüfter Vata Typ. Dieses moosgrüne Linoleum Monster war eine kindliche Trotzreaktion auf fünf Jahre Helmut. Bei ihm und damit bei uns wurden nur weiße Belege, Fliesen, Kacheln verlegt. Er liebte das Reine, Frische, dabei duschte er maximal jeden dritten Tag. Kennt jemand die Antwort auf die Frage, warum ich geglaubt habe, Helmut heiraten zu müssen? Die Aufrechterhaltung dieser unbefleckten weißen Nassraum Gestaltung wurde mir übertragen, weil Küche und Bad „mein Revier“ waren wie Helmut lächelnd betonte, während seine abgeschnittenen Finger – und Zehennägel durch die Badezimmerluft sausten. War ich zu schwach, zu nachgiebig? Jedenfalls übertrug ich diese Revierbereinigung unserer oder besser gesagt meiner neuen Bedienerin, einer Polin, ergriffene Anhängerin des Papstes. Helmut wusste nichts von der Dezentralisierung der mir auferlegten Aufgabe. Er meinte, es mache mich glücklich, ihn glücklich zu sehen. Hätte dieses Glück, das ich für Unglück hielt, zu jenem Liebesglück werden können von dem ich immer geträumt habe? Gibt es den Coitus interruptus als Lebensprinzip? Abbrechen, nicht zu Ende führen als roter Faden, der sich durch alle Beziehungen und Aktivitäten zieht? Studium nicht abgeschlossen, Job bei der Bank, der Versicherung, der Pharmaindustrie vorzeitig beendet, Saxophonkurs nach drei Semestern gestoppt, keine Kontakte mehr zu Karin, Bernhard, Tante Michi, Elke. Nie etwas zu Ende bringen weder die gestrickten Socken noch den Bauchtanzkurs, den Selbstvertrauen Lehrgang oder die Shiatsu Ausbildung. Jetzt. Jetzt zum Beispiel habe ich genug von dieser gelierenden roten Masse, die erwartet, von mir in Gläser umgefüllt zu werden. Besteht nicht mein ganzes Leben daraus, Dinge getan zu haben, die ich nicht wirklich tun wollte aber glaubte, tun zu müssen? Vier Gläser noch, das schaffe ich. Vier Deckel sind übrig, alle unterschiedlich und leicht zu identifizieren, zu welchem Glasobjekt sie gehören. Der Küchendampf zieht die Fensterscheiben hoch. Im filzgrauen Novembernebel blinken ein paar restliche Hagebutten, die der Wind mitsamt den Ästen in die klirrend kalte Luft schleudert. Wie ein Chirurg nach einer gelungenen Operation streife ich mir das Band aus den Haaren, lege die bespritzte Schürze ab, wasche meine verklebten Hände. Es ist mollig warm in der, allerdings zu kleinen, Küche. Zwanzig Gläser. Eigentlich könnte ich zufrieden sein, wäre da nicht schon wieder dieses Aufkeimen einer antwortlosen Frage: Warum kochst Du eigentlich Hagebutten ein. Du isst doch nie Marmelade?