Déyé món gen món- Hinter den Bergen liegen weitere Berge
Haiti vor Hurrican und Erdbeben
„C’est terrible.“ Der Satz des Fahrers ist kaum hörbar, geht unter im neuerlichen Aufprall des Stoßdämpfers in einer halben Meter tiefen Bodenwelle. Seit über einer Stunde keine asphaltierte Straße nur Schotter, Steine, Löcher. Und so wird es die nächsten fünf, sechs oder sieben Stunden bis Souvenance weitergehen. Die N1, die von Haitis Hauptstadt Port au Prince in den Norden des Landes führt, ist nur bis zu den Badestränden der Reichen asphaltiert. Danach beginnt, was Reiseführer vornehm mit einem „schlecht ausgebauten Straßennetz“ umschreiben. Plötzlich vier Menschen in der Mitte der Straße rund um ein großes Loch. Ausweichen ist unmöglich. Ich kenne die Taktik von Reiseberichten. Das Auto hält, die „Stopper“ zwingen die Passanten zum Aussteigen, rauben alles und lassen, wenn diese Glück haben, Fahrer und Insassen am Leben.
Wir halten an. Was sonst sollten wir tun. Diskussion. Mein Fahrer scheint mit derartigen Situationen vertraut zu sein. Wir können weiterfahren.
„C’est terrible.“ Keine Anklage. Der Stimme des Fahrers ist weder Zorn noch Ärger zu entnehmen. Der Satz ist eine Feststellung. Das Schreckliche ist das Normale. Es ist schrecklich, so wie es heute knapp 40 Grad hat und nachts der Strom ausfallen wird. Was hätte es für einen Sinn, sich darüber zu beklagen. Heute ist es heiß und morgen wird die Temperatur noch weiter ansteigen. Auch morgen wird es untertags keine Telefonverbindungen und abends keinen Strom geben. Ein kreolisches Sprichwort lautet: “Hinter den Bergen liegen weitere Berge.“ Nach der ersten Bodenwelle werden die Stoßdämpfer des Autos auf weitere Bodenwellen prallen. Entlang der ‚Straße’ Richtung Souvenance verharren in regelmäßigen Abständen Jeeps, Autobusse und Lastwagen mit rauchenden Motoren und zerfetzten Reifen.
„C’est terrible.“ Das Auto ist mehr als ein Fahrzeug. Es ist Arbeitsplatz und damit Lebensgrundlage. Geht das Auto kaputt, kommt das der Devastierung eines Landstrichs durch einen Hurrikan gleich.
Inzwischen schaukeln wir durch eine verkleidete, Rada Rhythmen trommelnde und tanzende Menschenmasse wie eines jener Schiffe mit denen die haitianischen Boat People die Insel verlassen, jene selbst zusammengebauten Boote, die von vornherein zum Untergang verurteilt sind.
„C’ est terrible.“ Ja, das Leben hier ist die Hölle, aber es gibt keine Abzweigung, also weiter. Gelegentlich schimmern kurz Zeichen der Hoffnung auf, aus dem Kreislauf von Analphabetismus, hoher Kindersterblichkeit, Arbeitslosigkeit, politischer Anarchie und Gewalt, nicht funktionierendem Justizsystem, korrupter Polizei und Ineffizienz der Verwaltung herauszukommen. Vor wenigen Tagen wollte ich Radio Inter besuchen. Jean Dominique, einer der bekanntesten Journalisten und Bürgerrechtler des Landes wurde vor kurzem erschossen als er das Rundfunkgebäude betrat. Seine Mörder entkamen. Ich steige aus dem Taxi und gehe einen kleinen Abhang hinauf zum Eingang des Rundfunkhauses. Nach zwei, drei Metern sehe ich, dass drei Gewehre auf mich gerichtet sind. Erster Impuls, umdrehen und nichts wie weg. Zweiter Impuls, besser ruhig weitergehen als in den Rücken geschossen zu werden.
Ich gehe bis zum Eingang, ignoriere so gut es geht die Mündung eines der Gewehre und sage auf französisch zu einem Mann mit Patronengürtel und Sonnenbrille: „Ich bin Journalistin aus Österreich und möchte gerne mit jemanden von Radio Inter ein Interview machen.“ Langsam werden zwei der Gewehre gesenkt, die drei Männer diskutieren miteinander, einer geht Richtung Haus. Ich stehe und warte.
Dann geht die Toranlage auf, ich werde durchsucht und darf in das Gebäude. Die bewaffneten Männer sollen nach dem Mord an ihrem Kollegen die anderen JournalistInnen vor weiteren Angriffen schützen. Der Filmemacher Jonathan Demme wird kurze Zeit später seinen Film über Jean Dominique „The Agronomist“ u.a. auch bei der Viennale in Wien präsentieren.
Dann erreichen wir endlich Souvenance. Der Tempel Mystique gehört den Rada Gottheiten, hier werden die von den afrikanische SklavInnen aus ihrer Heimat mitgebrachten Gottheiten, Loas genannt, verehrt. Der Tag der Initiation. In der Karwoche finden hier nahezu Tag und Nacht Zeremonien statt. Ich bin die einzige Weiße. Niemand hat etwas dagegen, dass ich mein Mikrophon einschalte, um das Ritual aufzunehmen, in dessen Verlauf ein schwarzer Stier geopfert wird, die Einzuweihenden ein Bad in einem schlammigen Tümpel nehmen und bei ihren Tänzen in Trance fallen. Vodou Rituale sind mit Haitis Geschichte eng verknüpft. Es heißt, dass der Vodou eine zentrale Rolle im Unabhängigkeitskampf und in der Revolte gegen die Kolonialmacht Frankreich spielte. Haiti ist die erste Republik, die erste Nation der Welt, die auf einem erfolgreichen Sklavenaufstand basiert.
Die Zitadelle,Cap Haitien
Die Zitadelle. Weltkulturerbe. Manifestation der Freiheit und Unabhängigkeit, des erfolgreichen SklavInnenaufstandes.
Cap Haitien, zweitgrößte Stadt Haitis mit ca 100.000 EinwohnerInnen.Mitte des 18.Jahrhunderts galt die Stadt als „das Paris der Antillen.“
Das Gebiet ist heute Teil des Nationalparks. Die Menschen hier leben von den- wenigen- TouristInnen, die sich zu Fuß oder zu Pferd auf den knapp 900m hohen Pic Laferrière bewegen. Sie kultivieren Bananen, Kaffee, Maniok, Mais und Bohnen.
Als der selbsternannte König Henri Christophe 1805 mit dem Bau der Zitadelle begann, hatte er ein Ziel: die Franzosen von einer weiteren Eroberung der Insel abzuhalten. Haitis Unabhängigkeit war erst ein Jahr alt. Henri Christoph, ein freigelassener Sklave, entwickelte sich bald zum Despoten. Die Arbeiter auf seinen Feldern standen unter der Kontrolle des Militärs. Die aus der Plantagenwirtschaft erzielten Gewinne steckte er in seinen Wohnsitz Sans Souci, eine Versaille Imitation und in die Zitadelle.
16 Jahre dauerte der Bau der Zitadelle mit ihren bis zu 50 Meter hohen und bis zu 5 Meter dicken Mauern. Nach dem Tod von Henri Christophe verfiel “ das kühne Wagnis der Militärarchitektur“(Harold Gaspar). Erst in den 70ger Jahren des 20. Jahrhunderts begann die Restaurierung an der u.a. auch der österr. Architekt Dr. Dipl. Ing, Friedmund Hueber beteiligt war.