Short Story
Er steht vor der Garageneinfahrt neben der Kopieranstalt in der Theobaldstraße. Ein lang gestreckter, strichartiger Körper, Schultern und Kopf nach vorne gebogen, dunkelroter Kapuzenpulli, Jeans. Ich zögere, überlege, auf die andere Straßenseite zu wechseln. Aber warum sollte ich. Die Bäckerei ist links um die Ecke. Zwei Frauen gehen an ihm vorüber, die eine in Richtung Mariahilferstraße, die andere kommt mir entgegen. Nichts geschieht, außer dass sein Kopf hin und her züngelt. Was habe ich denn erwartet. Die Maisonne hat noch nicht einmal die Dächer der Häuser angetastet, also kann seine laternenartige Gestalt keinen Schatten werfen und doch spüre ich, je näher ich ihm komme, eine dunkle Barriere auf dem Gehsteig. Mein Schritt wird dynamischer, fester, signalisiert jene hektische Eile von Berufstätigen, die bemüht sind, rechtzeitig am Arbeitsplatz zu erscheinen. Mit beiden Händen ziehe ich die schwarze Jacke zusammen als würde mich die morgendliche Kühle überraschen. Nach dem Aufstehen bemerkte ich, dass nur vertrocknetes Brot im Korb lag, stopfte das Nachthemd in die alte Hose, schlüpfte in die nächst besten Schuhe und verließ, ohne mich gewaschen und gekämmt zu haben, die Wohnung. Es ist kurz vor sieben Uhr früh. Er pfeift, als ich an ihm vorbei gehe. Ich bin zweiundsiebzig. Die Mariahilferstraße wirkt an diesem Sommermorgen wie frisch durch eine Waschstrasse gezogen und blank poliert. Das Laugengebäck ist ofenwarm. In fünf Minuten werde ich auf meinem grün gestrichenen Stuhl sitzen, vor mir auf dem sonnenbeleuchteten Tisch ein zitronengelbes Tischtuch, darauf meine Lieblings Kaffeetasse mit einer roten Rose, weißem Unterteller, Orangenmarmelade, Butter, das frische Gebäck, im Hintergrund Mozart oder heute vielleicht Astor Piazzolla. Der Wind wird die transparenten Vorhänge zärtlich hin und her schaukeln, eine Aufforderung zum Spielen für Minka, die noch zu klein ist, um sich mit ihren Krallen an die Enden der Vorhänge zu hängen. Ich kratze am Rückweg einzelne Kürbiskerne herunter, zerbeiße sie mit den noch ungeputzten Zähnen. Er steht immer noch da, registriere ich, nachdem ich um die Ecke gebogen bin. Ich muss an ihm vorbei. Also gehe ich weiter. Da schnellt sein Körper aus der Garageneinfahrt, macht zwei Schritte in meine Richtung, so dass ich ihm nicht mehr ausweichen kann und zischt: „willst ficken?“. Für nicht einmal drei Sekunden sehe ich ihm ins Gesicht. Bartstoppeln, höchstens dreißig, dünne Lippen, schwarzgrau auch das kurze Haar, dichte fast graue Augenbrauen und darunter Augen die Spuren von hunderten schlaflosen Nächten mit Schnaps, Zigaretten Gegröle in sich aufnehmen mussten. frühstücksgebäck 2 Waren es diese Augen, die sie als Letztes in ihrem Leben gesehen haben: das serbische achtjährige Kind, dem in zehn Sekunden mit sieben kurzen Schlägen der Schädel zertrümmert wurde; die gefesselten kroatischen Geiseln die bosnischen Männer mit der „falschen Nationalität “, denen er und seine „Kameraden“ mit Messern die Kehlen durchgeschnitten hatten; die dreißig im Dorf zurückgebliebenen Alten, Kosovo Albaner die, einer nach dem anderen, einen Genickschuss bekamen; der vierzigjährige montegrinische Gefangene, dem er zuerst Schläge und Tritte versetzte, dann einen elektrischen Draht an die Genitalien legte, danach einen Trichter in den Hals stopfte, Wasser in den Trichter goss, Liter um Liter, bis der Gegner redete oder tot war die makedonische Familie, die sein Trupp ins Haus einsperrte und bei lebendigem Leib verbrennen ließ…. Augen sind Kleinkameras. Sie filmen, was immer sie zu sehen bekommen, sind Komplizen aller Handlungen, können oder wollen sich keinem Verbrechen verweigern. Im Gegenteil. Es braucht den präzisen Blick, um mit dem Gewehr gezielt auf das Herz des Anderen anzulegen und zu treffen. Diese seine uniformgrünen Augen waren in Vukovar dabei, in Dubrovnik, Sarajevo, Celebici, Slavonski Brod, Lasvanska dolina, Tuzla, Omarska, Keraterm, Trnopolje, Manjaca, hatten alles gesehen, kannten Täter und Opfer, waren selbst tot. Es soll ja Tote geben, die glauben, dass sie noch am Leben sind. Sie verlangen dann von den Lebenden, jene Taten und Aktionen zu wiederholen, die früher für sie, die jetzt Toten, in ihrem Soldatendasein so alltäglich waren: Häuser zu zerstören, Geschäfte zu plündern, Dörfer auszurotten und das Selbstverständlichste von allem: zu vergewaltigen. Schwangere mit Küchenschürzen, fast – noch Kinder in kurzen geblümten Sommerkleidern, junge Mädchen mit oder ohne Kopftuch, Sechzig-Siebzigjährige in Westen und Hausschuhen, einzelne Frauen, Frauen in Gruppen, vor den Augen des Ehemannes, der Mutter, der Töchter, Söhne und Enkeln. Danach diese klebrig scharfe Lust und diese pulsierenden Allmachtsphantasien beim Zuknöpfen des Hosenschlitzes während die Frauen sich vor Schmerzen krümmen, verbluten oder schon tot sind. Liegt alles lange zurück zehn Jahre und mehr. Wer fragt jetzt noch nach diesen alltäglichen so genannten Kriegsverbrechen als ob nicht bereits im Zulassen eines Krieges der Beginn aller zu erwartenden Verbrechen liegt, als ob nicht der Krieg an sich das Verbrechen wäre. Kein Prozess, keine Verurteilung für den Terror der ganz normalen Kämpfer in Mostar, Peja, Osijek, Podujewo, und vor allem Srebrenica. Augen-Zeugen gäbe es genug. Aber welches Gericht würde Augen in den Zeugenstand rufen. Ich mache zwei Schritte nach links und gehe mit meinem Frühstücksgebäck in der Hand weiter. Auf der Fillgraderstiege umarmt sich ein Liebespaar, aus einem offenen Fenster ist der geschäftige Radionachrichtensprecherton zu hören, ein Auto hupt. Der Himmel ist faltenlos blau an diesem Sommermorgen in Wien.